erschienen am 04.05.2013 auf www.heidelberger-stueckemarkt.nachtkritik.de
Aus der Mitte der Gesellschaft – Marc Wortel nimmt Marc Beckers Textkonvolut kabarettistisch als Spielwiese
Unter der Dunstabzugshaube
von Georg Kasch
Heidelberg, 3. Mai 2013. In Speyer, unweit von Heidelberg, bietet ein Eisladen eine Sorte namens Obama an. Nun kann sich jeder denken, welche Geschmacksrichtung, also welche Farbe dahinter steckt. Ein Beispiel aus der Mitte der Gesellschaft, die man abends in Marc Beckers gleichnamigem Stück wiedertrifft: Dort quatscht sich jemand oder eine Gruppe durch zuweilen dadaistisch anmutende Sprachsalven, die sich zu Tiraden einer verunsicherten und zugleich alles ganz genau wissenden Schicht weiten.
Wie Elfriede Jelineks jüngere Bühnentexte bieten die knapp 100 Seiten einen großen Regie-Spielplatz. Marc Wortel stellt in seiner Marburger Zweit-Aufführung fünf Schauspieler in Weiß und Beige auf die fast leere Bühne, lässt sie revuehaft vor und mit dem Vorhang spielen und spitzt Beckers Suaden kabarettistisch zu: fiese Griechenland-Witze gehen in operettenseliges Geschunkel zu "Glücklich ist, wer vergisst, dass er unzufrieden ist" über, in einem Quiz müssen die beiden Frauen (für eine ist Wortel selbst kurzfristig eingesprungen) sich im Kampf um eine Perspektive gegenseitig darin übertrumpfen, Stammtischparolen zu ergänzen.
Lasst es qualmen
Der Höhepunkt: Johannes Huberts Parodie auf Heidi Klum, diese Mittelstandsversion einer Diktatorin. Dazu wird – als Bild für die geistige Vergiftung – unter einer edlen Dunstabzugshaube ordentlich gequalmt. Mit Franz Kafkas "Steuermann"-Erzählung zieht dann die Angst vor dem Verdrängtwerden, dem sozialen Abstieg düster in den Abend. Der ist über weite Strecken saukomisch. Indem Wortel Beckers Text in verdauliche Kabarett-Nummern auflöst, nimmt er ihm allerdings auch seine Sperrigkeit. Man lacht sich so durch. Ein bisschen mehr hätte es ruhig wehtun dürfen. Die Realität ist ohnehin bitterer als jede Satire.Willkommen im Mitmach-Mittelmaß!
"Aus der Mitte der Gesellschaft" lautet der Titel von Marc Beckers Stück, "In die Mitte der Gesellschaft" könnte man als Motto über die Zweitinszenierung Marc Wortels am Hessischen Landestheater Marburg schreiben. Denn natürlich geht es um die, die einen Großteil des Theaterpublikums bilden, um die bürgerliche Mittelschicht, die sich lange Zeit so behaglich und sicher fühlte und die nun mehr und mehr von Zukunftssorgen und der Angst vor sozialer Deklassierung geplagt wird. Die nach Perspektiven sucht, ohne welche zu finden, und Meinungen vertritt, ohne welche zu haben. Und die ach so gerne Durchschnitt wäre und deswegen am liebsten genau 1,37 Kinder hätte. Dass die fünf Damen und Herren auf der Bühne ausschließlich Beige tragen, bedarf dabei kaum der Erwähnung. Beige ist mehr als eine Farbe, es ist das kleidgewordene Bekenntnis zum Mittelmaß.
Beckers Stück gibt keine Sprecher vor, keine Figuren, keine Bilder. "Aus der Mitte der Gesellschaft" ist eine Textfläche; ein wenig früher Peter Handke, eine Prise mittlerer Rainald Goetz, ein Hauch späte Elfriede Jelinek: viel Sprachrhythmus, viel Klang, viel Wortspielerei und keine Handlung. "Der Text ist das Material", schreibt der Autor in seiner Vorrede und lässt der Regie damit viele Gestaltungsfreiheiten, von denen die Zweitinszenierung deutlichen Gebrauch macht.
Auf der Suche nach dem schärfsten Sprungbrett
Nachdem Marc Becker bei der Uraufführung seines Stückes 2010 in Oldenburg selbst Regie geführt hat, setzt die durchaus intelligent gemachte Marburger Produktion eigene Akzente. Wortel hat Bedenken, dass das Stück als "Sprachkonzert", so der Untertitel Beckers, zu schön, zu künstlich und dadurch zu harmlos sein könnte, er streicht das Spiel mit Klangsilben und versucht stattdessen zu aktualisieren und zu überspitzen. "Die Darsteller treffen das Publikum auf Augenhöhe", verspricht er im Programmheft und ergänzt im Gespräch, es sei ihm ein Anliegen, das Potential, das der Text liefert, zu verstärken, zu brutalisieren. Er sieht im Stück ein "explosives Gemisch", sucht das jeweils "schärfste Sprungbrett, um die Texte ins Publikum zu schleudern", und will "Meckertypen" auf der Bühne, keine Charaktere.
Das Spielzeitmotto des Marburger Theaters lautet "Neue Werte braucht das Land", und diese Werte sucht Beckers Stück in einer Gesellschaftsschicht, die sich immer stärker nach einem Oben sehnt und vor einem Unten bangt. Dabei kann die Suche nach neuen Werten durchaus zu alten und erschreckenden Mustern zurückführen:
Ich hatte
Ich kann doch nichts dafür
Mist, ey
Manchmal, aber echt nur ganz manchmal
Da wünsche ich mir nichts so sehr
Da wünsche ich mir den Rausch einer totalen Unterdrückung
Einigkeit und Recht und Stammtisch
Der schmale Grat zwischen positivem Wir-Gefühl und totalitärer Gleichschaltung wird in der Inszenierung amüsant ausgelotet. "Das ist Mitmachtheater", ruft einer der Darsteller. "Jetzt kommt der interaktive Teil des Abends", feixt ein anderer, und noch ist sich jeder im Publikum, in der Mitte der Gesellschaft also, sicher, dass er, dass sie, also dass wir da nicht mitmachen werden. Natürlich könnte ich Johann Strauß' "Glücklich ist, wer vergisst" aus der "Fledermaus" mitsingen, aber ich werde es nicht tun, ich bin schließlich im Theater und nicht im Cluburlaub. Als sich der sympathische junge Schauspier dann allerdings zu der Dame hinter mir setzt, sind wir schnell im Gespräch. Über alle Reihen und Sitze hinweg herrscht Einigkeit: Klar wissen wir alle, dass Schauspieler Drogen nehmen und sexsüchtig sind. Wir wissen alle, dass Politiker auch keine Ahnung haben und dafür horrende Gehälter kassieren. Und dass das "Dschungelcamp" für den Grimme-Preis nominiert war, ist selbstredend ein Skandal.
Faszinierend ist, wie es den Darstellern im Laufe des Abends immer wieder für ein paar Momente gelingt, sich mit dem Publikum zu solidarisieren. Sie schalten zwischen Bühnensprache und Alltagsstimme hin und her und vermitteln damit das Gefühl, wir seien unter uns. Dass ich beim Stammtischquiz auch hätte mitmachen und gewinnen können, stelle ich plötzlich mit leichtem Schrecken fest, denn tatsächlich konnte ich alle der zitierten Parolen ergänzen, obwohl ich nie zu einem Stammtisch gehe.
"Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt …"
Wenn das Ensemble auf der Bühne wieder unter sich ist, dann trifft man sich dort, wo früher vielleicht eine Dorflinde gestanden hätte. Die postmoderne Schwundstufe davon ist eine überdimensionale Dunstabzugshaube, unter der man alles tut, was Spaß macht: rauchen. Auch die gemeinsame Zigarette ist nämlich ein wichtiges Element der Verbrüderung, die nur noch durch den Tanz mit bunten Fahnen gesteigert wird. Und immer wieder zeigt sich, dass Harmonie ein äußerst fragiles Gebilde ist, auch im rhythmischen Gemeinschaftserlebnis lauern Neid und Aggression. Einerseits geht es natürlich um das große Wir-Gefühl, andererseits ist dieses Wir nur dann erträglich, wenn es mir etwas besser geht als den anderen: "Glücklich ist / Wer vergisst / Dass er unzufrieden ist", wandelt Becker den Operettentext ab.
"Bin ich nicht Steuermann?", so beginnt eine Erzählung Franz Kafkas, auf die die Marburger Produktion zweimal anspielt. Einerseits wird Kafka auf der Bühne zwar als Abiturwissen abgetan, das ohnedies von denen da unten niemand mehr besitzt, andererseits wird so die Statusangst einer arrivierten Mittelschicht zur existentiellen Angst jedes Einzelnen radikalisiert. Fast steht die Spielfassung des Marburger Teams vor der Depression, doch da zieht Marc Wortel den letzten, den endgültigen Trumpf aus dem Regisseurs-Ärmel, die ultimative Möglichkeit, noch einmal so etwas wie Zusammengehörigkeit zu erzeugen. Was über gemeinsames Schunkeln und Mitsingen nur bedingt funktioniert, klappt beim Fußball garantiert, spätestens wenn ein Tor fällt. "Deutschland ist Weltmeister!" Das Wunder von Bern wird eingespielt und hat auch knapp 60 Jahre danach nicht an Reiz verloren. "Es ist ein kurzes, ein zeitliches Happy-End, aber ganz pessimistisch zu enden, das wäre nicht richtig", kommentiert Marc Wortel seine Entscheidung. Und so sind Publikum und Ensemble doch noch zu einer großen Familie geworden, wir sind alle gleich, alle durchschnittlich – wie gesagt, für einen kurzen Moment.
Marburg. Was für ein Unterschied zur „Dreigroschenoper“: In der Stadthalle Massenszenen, ein opulentes Bühnenbild, tolle Kostüme und jede Menge Technik. Im Theater am Schwanhof fünf Darsteller in Weiß und Beige, eine bis auf eine Dunstabzugshaube und einen Edelstahl-Aschenbecher leere Bühne. Dort ein Klassiker, hier ein unbekanntes Stück eines - außerhalb der Theaterszene - weitgehend unbekannten Autors.
Dennoch lohnt sich ein Besuch. Denn „Aus der Mitte der Gesellschaft“ ist trotz des sperrigen Titels, trotz der Verweise auf die Sorgen und Nöte der deutschen Mittelschicht, trotz der spartanischen Ausstattung ein sehr unterhaltsames Stück.
Marc Becker, Jahrgang 1969, ist seit sechs Jahren Hausautor und Hausregisseur am Staatstheater Oldenburg. Dort kann er seine Stücke wie „Terrorprogramm“ oder „Glück für alles“ selbst inszenieren. Dies gilt auch für „Aus der Mitte der Gesellschaft“, das sich in Oldenburg nach und nach zum Publikumsrenner entwickelt hat.
In Marburg war die Premiere am Samstag bei weitem nicht ausverkauft - zu unbekannt Stück und Autor, zu groß das kulturelle Konkurrenzangebot. Das könnte sich noch ändern, denn die Inszenierung des jungen Niederländers Marc Wortel entpuppt sich als äußerst kurzweiliges Theatervergnügen: Drei Männer - Johannes Hubert, Daniel Sempf und Tobias M. Walter - und zwei Frauen - Uta Eisold und Christine Reinhardt - stehen dort auf der Bühne. Sie haben keine Namen, spielen keinen Charaktere. Sie sind Durchschnittsmenschen wie Du und Ich, leben in einer mittelmäßigen Stadt in einer mittelmäßigen Wohnung, tragen Durchschnittskleidung. „Durchschnitt sein ist Ehrensache“, sagen die Stimmen der Mittelschicht, die Stimmen der schweigenden Mehrheit.
Ja, sie machen sich Gedanken über Klimawandel, Terrorismus und Arbeitslosigkeit, behalten sie aber für sich. Und am besten wäre es ohnehin, man würde sich erst gar keine Gedanken machen, dann hätte man auch mehr Zeit - für sich.
„Sprachkonzert“ nennt Marc Becker seinen Text, in dem er geschickt Floskeln zusammenfügt. Denn vor einem hat die Mittelschicht, die Mitte der Gesellschaft, richtig Angst: Vor dem Abstieg, dem Fall ins Nichts, vor Hartz IV. Jahrelang war dieser Sturz fern, doch jetzt rückt er immer näher ins Bewusstsein des Durchschnittsbürgers, der ja auch im Publikum sitzt. Und der wird rigoroser. Der Bettler? Früher hat man ja gern gegeben, aber heute weiß man: Der ist selber Schuld oder er gehört zu Bettlermafia. So hofft man auf einen „Erlöser“, der sagt, wo es lang geht, ja, womöglich sogar auf einen Unterdrücker („Das klingt jetzt aber ein wenig negativ.“)
Während die Mittelschicht um ihre Sicherheiten bangt, richtet sie den Blick auf die, denen es noch schlechter geht: Griechen- und Frauenwitze werden erzählt. Und wenn alle Stricke reißen, gibt es ja noch König Fußball.
Marc Wortel hat das „Sprachkonzert“ mit viel Tempo in Szene gesetzt. Gespielt wird vor und hinter dem geschlossenen Vorhang, auf der fast leeren Bühne, permanent rauchend unter einer Dunstabzugshaube oder im Publikum. Und den fünf Darstellern macht diese bisweilen boshaft zynische und oft sehr komische Auseinandersetzung mit den Ängsten der Mitte, die schnell in Radikalität umschlagen können, sichtlich Spaß. Dem Publikum übrigen auch, das stürmisch applaudierte.
Aus der Mitte der Gesellschaft ist morgen Abend und am 30. September jeweils ab 19.30 Uhr wieder im Theater am Schwanhof zu sehen.
von Uwe Badouin
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