Feinsinniges Drama

Gesellschaftskritik mit Biss in gediegener Verpackung


Identität und Sexualität stehen im Fokus von Sam Holcrofts rabenschwarzer Gesellschaftskomödie "Solange Du lügst". Das Erfolgsstück beim berühmten Edinburgh Theater-Festival kam als kleine Produktion auf der Studiobühne "Black Box" des Hessischen Landestheater Marburg schon im Mai heraus.

Beim Publikum ist es bisher ein unterschätzter Geheimtipp, obwohl es großartiges Theater bietet. Die Aufführung am Donnerstag (22. September) hätte verdient, besser besucht gewesen zu sein.
Die Geschichte handelt von der ehrgeizigen jungen Frau Ana. Die Einwandererin versauert trotz guter Ausbildung in einem Sekretärinnen-Job. Aus lauter Frust über die fehlende Anerkennung macht sie mit ihrem Freund Schluss. 
Mit ihrem Chef einigt sie sich auf einen Deal, sodass sie endlich einen Karrieresprung hinbekommt, indem sie ihm dafür Sex anbietet. Dessen Ehefrau Helen ist indes voller Angst, dass sie wegen einer Jüngeren auf der Strecke bleiben könnte. 
Beide Frauen fallen aus eigenem Antrieb auf die Versprechungen eines Schönheits-Chirurgen herein, der ihnen unbegrenzte Attraktivität und Alterslosigkeit verspricht. Irgendwie muss frau halt ihre existenziellen Ängste unterkriegen.
Das ganze Paket des Geschlechterkampfs also wird aus genuin weiblicher Sicht von einer 26-jährigen Theaterautorin ins Visier genommen. Man ahnt gleich: da ist viel "Pfeffer" drin und es geht handlungsstark zu. 
Die Inszenierung von Marc Wortel hat viel Schwung, Situationskomik und Witz. Man merkt währenddessen kaum, dass so viel Ernst im Spiel ist, so gut wird man unterhalten.
Das tolle Bühnenbild von Christian Werdin besteht aus einem - in sich selbst sehenswerten - riesigen hölzernen Kreisel. Manchmal schwingt er tagträumerisch zu amerikanischen Liebes-Schnulzen-Gesang. Dann wieder überrollt er wie losgelassen die Pläne der Akteure.
Von Renske Kraakman stammen die humorvoll treffsicheren Kostüme. Allein ihre Ausstattung des in die Wüste geschickten Boyfriends Edward mit einem Comic-Helden-Outfit in kurzen Hosen und Cape - alles in lindgrün gehalten - ist ein grandioser Spaß.
Alle fünf Darsteller zeigten eine pointensichere, hervorragende schauspielerische Leistung. Als überragend und auf den ersten Blick kaum wiederzuerkennen erwies sich Jürgen Helmut Keuchel in der Rolle des Schönheits-Chirurgen. Soviel Power und Ausstrahlung hatte er nicht einmal in der dankbaren Rolle des König Philipp im Don Karlos.
Daniel Sempf als vor seiner Frau schlotternder Ehemann und gegenüber der Sekretärin den Macho herauskehrender Miniatur-Boss zeigte enormes Komiker-Talent mit viel Mut zu inszenierter Lächerlichkeit. Gergana Muskalla - als eigentliche Hauptrolle des Stücks - brachte die innere Not, Frustriertheit und Entschlossenheit einer jungen Frau, die etwas ändern will, glaubwürdig heraus. 
In der von Franziska Knetsch leicht karikierend verkörperten Mittelstands-Hausfrau Helen konnten sich vermutlich viele wiedererkennen. Und Tobias M. Walter als eifersüchtelnder Romeo empfahl sich als romantischer Liebhaber mit Pathos, Komik und Schmelz.
Dem Chefdramaturgen Alexander Leiffheidt darf man für seine wesentliche Rolle bei der Auswahl dieses Theater-Juwels dankbar sein. Sehr schade ist, dass durch die Ankündigung beim Publikum der irreführende Eindruck entstehen konnte, dass es sich um ein anstrengendes "Lügen-pfui"-Stück handele. 
Wüssten die Leute, dass in diesem Dramen-Kleinod eigene Alltagserfahrungen aufgegriffen und federleicht in Lachen verwandelt werden, dann strömten sie möglicherweise nur so herbei und machten den Geheimtipp zu einem Triumph. Völlig naheliegend erschiene auch, sich mit dieser fulminanten Produktion an nationalen Wettbewerben zu beteiligen. 
Das Potenzial ist gegeben. Nun müssen Medien und Mundpropaganda noch zur Verbreitung der Nachricht führen. Der Schlussapplaus nach knapp 90 Minuten Aufführung war jedenfalls entsprechend lang anhaltend.

Marburg News

 

Jürgen Neitzel - 23.09.2011

 

 

Oberhessische Presse 16.5.2011

von Uwe Badouin

 

Schocktherapie – nicht jugendfrei

Mit eher verhaltenem Applaus reagierte ein spürbar irritiertes Publikum am Freitagabend auf die Premiere des Stückes der Engländerin Sam Holcroft. Regisseur Marc Wortel verordnet dem Publikum eine Schocktherapie.

MARBURG. Was bleibt haften nach gut 90 ziemlich verstörenden Minuten? Einmal das eindrucksvolle Bühnenbild von Christian Werdin. Es besteht einzig aus einem riesigen hölzernen Trichter. Es ist der rollende Hamsterkäfig, in dem die Protagonisten gefangen sind. Dann die schillernd-ironischen Kostüme von Renske Kraakman. Fünf mitreißend agierende Darsteller, die oft an ihre Grenzen gehen. Und als Fazit des Stückes: der Körper ist eine Ware. Im knallharten Kapitalismus dieser Tage ist er ein Konsummittel, das mit Hilfe der plastischen Chirurgie renoviert wird wie ein Auto.

„Solange du lügst“, das Erstlingswerk der erst 28 Jahre alten Schottin Sam Holcroft, beginnt als harmlose Gesellschaftssatire, entwickelt sich aber zu einer zynischen, oft urkomischen und genauso oft ernüchternd-irritierenden Groteske über menschliche Beziehungen in einer Zeit, in der Pornografie ein fast salonfähiger Markt zu werden scheint, der über die neuen Medien und Handydownloads längst die Schulhöfe erreicht hat.

Der junge Berliner Regisseur Marc Wortel provoziert mit seiner drastischen Inszenierung, die sexuelle Beziehungen und Dienstleistungen nicht nur andeutet, sondern explizit ausspielt, ein an Klassiker gewohntes älteres Publikum und verstört vermutlich Teenager, denen der Gefühlsüberschwang eines Werther aus der Zeit des Sturm und Drang vor mehr als 200 Jahren näher sein dürfte als die erschreckend realistische Darstellung des Körpers als Kapital in der Gegenwart.

„Solange du lügst“ ist ein Fünf-Personen-Stück. Es spielt in einer anonymen und beliebigen (Groß-)Stadt der westlichen Zivilisation. Doch von dieser Zivilisation ist nicht viel geblieben im Kapitalismus, der bis hinein in engste Beziehungsgeflechte regiert.

Ana (Gergana Muskalla) ist eine gebildete Immigrantin. Sie träumt vom sozialen Aufstieg, arbeitet aber als Sekretärin. Edward (Tobias M. Walter) ist ihr Freund. Der junge Mann, den Kostümbildnerin Renske Kraakmann in ein mintgrünes Kinder-Supermann-Kostüm gesteckt hat, ist der Einzige, dem in 90 Minuten das Wort „Liebe“ über die Lippen kommt. Nach einem banalen Streit kommt es zur Trennung und Edward bricht mit einer kleinen Fahnenstange und einer Dauererektion zu seinem Kreuzzug für die „Wahrheit“ auf.

Unterdessen hat sich Ana mit ihrem Chef Chris (Daniel Sempf) arrangiert: Sex gegen bessere Bezahlung. Ihr Körper, nicht ihr Intellekt, soll sie voranbringen.Während Chris zunehmend Gefallen an den sexuellen Ausschweifungen mit seiner Untergebenen findet und die Grenzen stetig verschiebt, spielt er zu Hause den treusorgenden Ehemann und Vater. Dort erwartet ihn Helen (Franziska Knetsch). In ihren pastellfarbenen Baby-Dolls legt Franziska Knetsch die Rolle mitreißend als kuriose Mischung aus Doris Day und knallhart berechnender Frau an, die alles für ihren sozialen Status tun würde.

Mitten hinein in dieses fragile Geflecht platzt Ike (Jürgen H. Keuchel). In seinem blütenweißen Anzug mit Kettchen und einem langen grauen Haarzopf wirkt er wie ein US-Fernsehprediger. Kühl und emotionslos verkauft er seine Heilslehre – die plastische Chirurgie, die verkorkste Typen zu vermeintlich neuen Menschen macht. Die beiden Frauen lassen sich darauf ein – und aus Ana wird eine Barbie-Puppe.

Übersetzt wurde die bitterböse Satire von dem Marburger Chefdramaturgen Alexander Leiffheidt. Sie lebt von schnellen, temporeichen, bisweilen zynischen Dialogen, die oft ins Schwarze treffen. Neu aber ist das alles nicht. Insbesondere die Filmindustrie hat das Thema fragiler Beziehungen mehrfach durchexerziert. Auf der Bühne jedoch ist die Auseinandersetzung mit dem Körper als Ware in dieser direkten Form zumindest im eher betulichen Landestheater-Milieu weitgehend unbekannt. Wenn Ike dem unter Erektionsstörungen leidenden Edward Erleichterung verschafft, wenn „ficken“ eines der gebräuchlichsten Wörter in dem Stück ist und wenn Chris mit Ana auf der Bühne seine Sexfantasien auslebt, ist das im 21. Jahrhundert weit weg von einem Theaterskandal, aber als Bühnenprovokation sicher nicht jedermanns Geschmack.


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